Wie ukrainische Nationalisten den Alltag des DP-Camps Lysenko in Hannover prägten
Die Befreiung Hannovers begann am 10. April mit der Befreiung des KZ Ahlem durch amerikanische Soldaten. Gegen 21 Uhr fiel der letzte deutsche Widerstand an einer Flakstellung in Langenhagen. Aufgrund des Einmarsches der Alliierten und der drohenden Niederlage wurden unter dem Befehl der Gestapo noch am 6. April 1945 154 zumeist sowjetische Zwangsarbeiter aus dem KZ Ahlem durch die Stadt geführt und schließlich auf dem Stadtfriedhof Seelhorst hingerichtet. Unmittelbar nach dem Einmarsch der US-Truppen erreichte die britische Armee Hannover und die Stadt wurde zur britischen Besatzungszone. Die Besatzung Hannovers bedeutete für die überlebenden Zwangsarbeiter zunächst eines: Befreiung. Von den etwa 60.000 Zwangsarbeitern in Hannover stammten viele aus dem ukrainischen Teil der damaligen UdSSR, die nach der Befreiung zu Displaced Persons (DP) wurden. Ein weiterer, nicht unerheblicher Teil der ukrainischen DP in den westlichen Besatzungszonen, bestand aus Personen, die aus politischen Gründen und Angst vor Verfolgung durch die sowjetischen Autoritäten oder die Rote Armee zusammen mit der deutschen Wehrmacht zurückwichen. Schätzungen zufolge gehörten von den rund 200.000 verbliebenden ukrainischen DP in den westlichen Besatzungszonen 30 bis 40 Prozent dieser Gruppe an.1 Von anderen Nationalgruppen unterschieden sich die Ukrainer dadurch, dass sich viele von ihnen nicht in eine nationalstaatliche Gruppe einteilen lassen wollten und auf ihre Eigenständigkeit pochten, aber häufig dennoch als polnische oder sowjetische DP registriert wurden. Maßgeblich für die Schaffung eigener DP-Camps für Ukrainer waren das Beharren auf Eigenständigkeit und die Furcht vieler Ukrainer vor sowjetischen Repressalien, aufgrund zahlreicher Kollaborationsvorwürfe, welche in Widerstand gegen die Zwangsrepatriierung kulminierte.2 Die Rolle der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges ist gekennzeichnet durch den nationalen Antagonismus zwischen Polen und der Ukraine, dem Widerstand gegen die Sowjetunion und durch partielle Kollaboration mit den Deutschen.
Mit der Annexion der Ukraine fanden die deutschen Truppen zunächst wohlwollende Unterstützer gegen die Rote Armee. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) unter der Führung von Stepan Bandera und Jaroslaw Stezko proklamierte unmittelbar nach der Besetzung einen eigenständigen ukrainischen Staat und bat sich als potentieller Bündnispartner den Nationalsozialisten an. Bereits der Überfall auf Polen wurde von ukrainischen Nationalisten der OUN als möglichen Anfang einer „Befreiung“ gedeutet, verbunden mit der Hoffnung auf staatliche Eigenständigkeit.3 Die OUN war mit zwei Bataillonen innerhalb der Wehrmacht vertreten, in Galizien wurde eine SS-Division gegründet und im Zuge der Kollaboration waren viele Ukrainer auch an Vernichtungsaktion gegenüber der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Die OUN spaltete sich 1940 in eine von Bandera geführte Gruppe (OUN-B) und in eine Gruppierung unter dem Kommando des ukrainischen Offiziers Andrij Melnyk (OUN-M). In Lemberg wurde 1941 schließlich die Unabhängigkeit der Ukraine von Jaroslaw Stezko ausgerufen, was jedoch den nationalsozialistischen Plänen zuwider lief: Stezko und Bandera wurden als Anführer der OUN-B verhaftet und in die Konzentrationslager Ravensbrück und Sachsenhausen gebracht, in denen beide als Ehrenhäftlinge einen Sonderstatus erhielten und bevorzugt behandelt wurden. Vor allem im Westen der Ukraine, innerhalb der Swoboda und in der Fanszene des lembergischen Fußballvereins Karpaty Lwiw, wird Bandera heute noch als Nationalheld gefeiert. Die Ostukraine, Russland und Israel verurteilen ihn dagegen als Kriegsverbrecher.4
Nach der Befreiung 1945 organisierten die Ukrainer in zahlreichen Camps eine „Zentralvertretung der Ukrainer in Deutschland“, welche von Vertretern der OUN-B geführt wurde. Maßgeblich beteiligt an der Selbstorganisation war auch das Ukrainische Rote Kreuz (URK), das sich auch in Hannover gründete und unter anderem gefälschte Ausweise für Ukrainer ausstellte. Das URK war den Briten anfangs eine willkommene Hilfe, da es die medizinische Versorgung der DP während der Frühphase des Camps Lysenko übernahm. Dem URK wird eine große Nähe zur OUN, speziell der Bandera-Organisation, nachgesagt. Benannt nach dem ukrainischen Komponisten Mykola Lysenko, wuchs das hannoversche DP-Camp zum größten eigenständigen ukrainischen Camp in der britischen Zone heran. Standort des von 1945 bis 1950 bestehenden Camps war ein ehemaliger Kasernenkomplex im Stadtteil Vahrenwald-List, zwischen dem Nordring und der Möckernstraße. Während des Nationalsozialismus wurden die Gebäude auf dem 21.000 qm großen Gelände als Fernmeldebataillon, Reitschule und als tiermedizinische Akademie genutzt, zudem befanden sich dort ein Krankenhaus und private Wohnungen.
Die britische Armee versammelte dort im Juni 1945 zunächst 100 ukrainische DP und beauftrage die UNRRA5 mit der Organisation des Camps, welche die Zusammenarbeit mit dem URK forcierte. Da die Gründung des Camps weitestgehend auf die Eigeninitiative der ukrainischen Selbsthilfeorganisationen zurückzuführen war, ließen die Briten den DP freie Hand bei der Errichtung, organisierten aber die Lebensmittelversorgung. Als erste eigene Lagerinstitution wurde noch vor der Übernahme durch die UNRRA eine eigene Camp-Polizei aufgestellt, die anfänglich für die Logistik und Organisation innerhalb des Camps verantwortlich war. Das Gefühl der Selbstorganisation und die zentrale Lage mitten in Hannover eröffneten für die ukrainischen DP Arbeitsmöglichkeiten und boten bessere Integrationschancen als andere DP-Camps, so dass das Camp ab Ende der 1940er Jahre für den dauerhaften Aufenthalt vorgesehen wurde. Durch die Versorgung im Camp bestand für viele DP aber nicht zwangsläufig die Notwendigkeit zur Arbeit, zudem war der Wunsch nach Auswanderung stärker als jener in Deutschland zu bleiben.
Bereits im Sommer 1945 erreichte das Camp eine Belegungsstärke von 700 Menschen, im April 1945 wurde mit 4,300 DP der vorläufige Höhepunkt erreicht. Die Verantwortung für das Camp wurde anfänglich in die Hände von Konstantyn Podil’syj gelegt, der dort später als erster Lagerkommandant fungierte, für viele Lysenko-Bewohner als einer der Köpfe der OUN-M galt und von der Sowjetunion der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt wurde. Sein Nachfolger wurde Tedosij Haran, ebenfalls Mitglied der OUN-M, der das Camp teils mit diktatorischen Mitteln führte.6 Dieser Aspekt spiegelte sich auch in der Krise des Camps wieder, welche sich in konfessionellen Konflikten zwischen Ost- und Westukrainern manifestierte. Unter der Führung von Podil’syj und Haran konstituierte sich die Forderung nach einer Separierung von orthodoxen und griechisch-katholischen Ukrainern, da der Minderheit der katholischen Galizier eine Terrorherrschaft innerhalb des Camps vorgeworfen wurde. Maßgeblich angeführt wurde der vermeintliche Terror von „Sicherheitskräften“, die der westukrainischen OUN-B angehörten und deren Machtausübung auch aus anderen ukrainischen DP-Camps geschildert wurde. Nach Angaben des US-Geheimdienstes waren 80 Prozent der DP aus der Westukraine Bandera-Anhänger. Den Banderivci der OUN ging es insbesondere um die Verbreitung ihrer Ideologie, die sich in der Stärkung des Nationalbewusstseins und dem Antikommunismus gegenüber der Sowjetunion manifestierte. Diese Politik wurde stark symbolisch aufgeladen und äußerte sich häufig in Gedenkfeiern für Märtyrer des ukrainischen Befreiungskampfes, die auch im hannoverschen Camp abgehalten wurde. Die Thematisierung der unmittelbaren Vergangenheit richtete sich strikt am nationalistischen Narrativ des anti-kommunistischen Freiheitskampfes aus: „Kollaboration blieb ein dauerhaftes Tabuthema, in der Erinnerung an den Krieg existierten Ukrainer nur als Opfer der ‚schrecklichen Katastrophe‘, als Opfer der Sowjetunion oder als heroische Freiheitskämpfer.“7 Angesichts der Beteiligung ukrainischer Truppen beim Überfall auf die Sowjetunion, den OUN-Bataillonen der Wehrmacht und der SS-Division Galizien kann dies nur als bewusster Geschichtsrevisionismus gesehen werden. Die Schicksale und das Leid der Zwangsarbeiter, die ihre Befreiung enthusiastisch feierten, fanden hingegen keine interne oder öffentliche Reflexion. Das ukrainische Narrativ unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte eines mit der deutschen Gemein: Der eigene Opferstatus wurde in den Mittelpunkt gestellt und die alliierten Befreier wurden zu Tätern stilisiert.
Im Juli 1950 wurde das Camp unter deutsche Verwaltung gestellt und in „Lager Möckernstraße“ umbenannt, da das niedersächsische Innenministerium keine ausländischen Bezeichnung für das Camp duldete. Von den knapp 1900 verbliedenden DP sollten viele in das Camp Heidenau (zweitgrößtes ukrainisches Camp in der britischen Zone) und Oerrell/Munster verlegt werden, was auf große Vorbehalte seitens der Ukrainer stieß. Vorbehalte gab es auch von den deutschen Lokalverwaltungen, die einen Anstieg „ausländischer“ Kriminalität befürchteten. Nach der Übernahme des Camps durch die deutsche Behörde meldeten sich viele Ukrainer für die Arbeit in der Hanomag-Produktion (Hannoversche Maschinenbau AG), deren Anzahl bis zum März 1947 auf rund 600 Arbeiter aus dem DP-Camp anstieg.8 Nach der Auflösung des Camps am 6. November 1950 wurde ein Großteil der arbeitenden DP in nahegelegene Wohnblocks untergebracht. Über 300 der Bewohner Lysenkos wurden auf eigenen Wunsch nach Hildesheim verlegt, weitere immigrierten nach Kanada, in die USA oder nach England. Die politischen Akteure der OUN hofften indes weiter auf Verwirklichung eines eigenständigen ukrainischen Staates und appellierten angesichts des bevorstehenden Resettlements an das Nationalbewusstsein der hannoverschen DP als Teil der nationalen Gemeinschaft in eine unabhängige Ukraine zurückzukehren.
- Dyczok, Marta: The Grand Alliance and Ukraine Refugees, Basingstoke 2000, S. 77.
- Auf der Konferenz von Jalta wurden zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion Kriterien für Personen festgelegt, die zwangsweise repatriiert, also in ihre „Ursprungsländer“ zurückgeführt werden sollten. U.a. galt dies auch für Personen, die der Kollaboration beschuldigt wurden oder deren Wohnsitz ab 1939 auf sowjetischem Territorium lag.
- vgl. Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 2000, 222.
- ebd., S. 224.
- Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRAA) war eine 1943 gegründete Hilfsorganisation, deren Hauptaufgabe in der Unterstützung der Alliierten bei der Repatriierung der Displaced Persons lag.
- vgl. Antons, Jan-Hinnerk: Ukrainische Displaced Persons in der Britischen Zone. München 2014, S. 179.
- ebd. S. 290.
- ebd. S. 160.